Mobilität darf nicht isoliert betrachtet werden

Thomas Osburg und Rainer Nüßlein

Los Angeles bei Nacht (Foto: Henning Witzel auf Unsplash)

Forderungen nach Nachhaltiger Mobilität werden fast täglich gestellt. Wir sehen dabei einen starken Fokus auf isolierten Lösungen, oft ohne die übergreifende Entwicklung der Städte zu berücksichtigen. Dies greift zu kurz, denn die Mobilität der Zukunft muss sich an neuen Konzepten der Stadtentwicklung orientieren- und nicht umgekehrt. Nur so wir es gelingen, die Bürger einer Stadt mitzunehmen und ihnen quasi eine durchgehende Customer Journey zwischen Leben und Mobilität zu bieten.

Urbane Ballungsräume sind für bald 75% der Bevölkerung in vielen Ländern das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens und gleichzeitig der Motor der Wirtschaft. Über 80% des Bruttoinlandprodukts der Europäischen Union werden in Städten erwirtschaftet.

Gleichzeitig entsteht vor allem dann eine stark steigende Mobilitätsnachfrage, wenn Wohnen, Arbeiten, Bildung, Versorgung und Freizeit voneinander getrennt sind. Gesellschaftliche Teilhabe, und oft auch nur normales Leben, hängt stark von individueller Mobilität ab. Die Folgen können wir jeden Tag sehen: Staus, Treibhausgasemissionen, Luftverschmutzung, Lärm und Sicherheitsrisiken.

Um die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen, brauchen wir sowohl technologische Ansätze – intelligentes Städtemanagement, weniger Verkehr – als auch die Zustimmung der Bürger:innen. Schon vor über einhundert Jahren schrieb Joseph Schumpeter: „Innovation is not inventors inventing, but customers adopting“. Neue Ansätze sind nur so gut, wie sie von den Bürger:innen akzeptiert werden.

Und da kommt die Politik ins Spiel: Hier laufen oft alle Fäden zusammen: Verkehrsplanung und Bürgerwille, technologische Machbarkeiten, die Steuerung von Partikularinteressen einzelner Stakeholder und vieles mehr. Wenn dann drei von vier Menschen in diesen Städten leben, werden Bürgermeister zu Präsidenten, und Stadtplaner zu Ministern.

Milwaukee, USA (Foto: Tom Barrett auf Unsplash)

Koordination von urbaner Entwicklung und Mobilität

Diese Koordinationsfunktion (nicht Kontrollfunktion) fehlt oft. Unzählige Start-Ups beglücken uns und die Städte mit neuen, großartigen Lösungen: E-Bikes, E-Scooter, E-CargoBikes usw. für den urbanen Raum – aber ohne Lösungen anzubieten, woher der Platz für all diese neuen Verkehrsmittel kommen soll. Hier wird oft nur auf das Allgemeingut des öffentlichen Raums (Tragedy of the Commons) verwiesen. Automobilfirmen überbieten sich in der Produktion neuer Elektroautos, die zwar oft (nicht immer) eine positive Wirkung auf den CO2-Ausstoß haben, aber nicht weniger Platz brauchen als beispielsweise Diesel-Autos.

Und die teilweise sogar das Gegenteil bewirken: Wenn aus Umweltgründen bisher ein kleiner oder Mitteklassewagen gefahren wurde, ist für viele Autofahrer jetzt dank Subventionen ein guter Grund, auf einen Elektro-SUV umzusteigen. Kein schlechtes Gewissen mehr, aber im Parkhaus braucht man plötzlich zwei Stellplätze. Dazu kommen immer mehr Fahrräder, die zunehmend ihre eigene Spur und damit ihren Anteil am öffentlichen Raum verlangen. Pop-Up Fahrradwege können nur eine Zwischenlösung sein. Und dann, ganz am Schluss, war da ja noch etwas… ach ja, der/die Fußgänger:in! Die seit langem existierenden Konzepte zur Umsetzung der sog. WalkAbility of Cities (s. z.B. Ansätze in Hongkong) kommen kaum von der Stelle. Gefordert ist ein übergreifender Ansatz, der sowohl neue Konzepte der urbanen Wohnentwicklung entwickeln als auch die Konsequenzen für Mobilität und für die Menschen berücksichtigen muss, die auf diese Mobilität angewiesen sind.

Aktuelle Ansätze

Die Zustimmung der Bürger zu Maßnahmen der Verkehrsgestaltung und -lenkung hängt nicht zuletzt von nachvollziehbaren Entscheidungswegen und attraktiven Angeboten ab. Verkehrspolitische Maßnahmen sollten unter Berücksichtigung dieser Prämisse die Verkehrsmittel intelligent vernetzen, ihre jeweiligen Stärken herausstellen und Mobilität als ein wesentliches Stück Lebensqualität verstehen und sichern.

Die Mobilität der Menschen in allen ihren Facetten zu erhalten und die Güterversorgung zu sichern, ohne dass der Verkehr langfristig Mensch und Umwelt übermäßig belastet – das sind die Ziele einer nachhaltigen Mobilität.

Ein ganzheitlicher Blick fehlt oft

Traditionelle Ansätze einer holistischen Planung erschöpfen sich oft in Autos raus aus der Innenstadt (Berlin Friedrichstr., Hamburg Jungfernstieg, usw.). Zwar zeigen einige dieser Konzepte partielle positive Wirkungen, ohne dass der Umsatz der ansässigen Geschäfte leidet (z.B. in Wien), aber viele dieser Ansätze greifen zu kurz. Wie werden beispielsweise ältere und/oder gehbehinderte Menschen integriert? Diese Frage stellt sich z.B. auch in Barcelona, wo mit dem Konzept der verkehrsberuhigten und auf sich selbst fokussierten Superrilles – (verkehrsberuhigte Planquadrate, die nur dem lokalen Verkehr zugänglich sind und auf deren Straßen Fußgänger:innen und Autos oder andere Verkehrsmittel gleichberechtigt sind) neue Formen des urbanen Lebens ausprobiert werden.

Einen Schritt weiter geht Anne Hidalgo, seit 2014 amtierende Bürgermeisterin von Paris, mit ihrer Forderung nach der sog. 15-Minuten Stadt. Der Initiator des Konzepts, der Sorbonne-Wissenschaftler Carlos Moreno, erklärt: “Das Konzept der 15-Minuten-Stadt besteht kurz gesagt darin, die Stadt so zu gestalten, dass sie innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen ist, um die sechs wichtigsten Aktivitäten des Stadtlebens zu ermöglichen: Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Bildung, Gesundheit und Vergnügen“.

Nachhaltige Mobilität für nachhaltige Städte

Die gesellschaftliche und politische Unterstützung dieser Initiativen manifestiert sich seit dem Jahr 2015 im Ziel Nr. 11 der Sustainable Development Goals (SDG’s), in dem Forderungen nach Zugang zu angemessenem Wohnraum und zu einer adäquaten Grundversorgung der Bürger, dem Aufbau von sicheren, bezahlbaren und nachhaltigen Verkehrssystemen sowie eine inklusive und nachhaltige Stadtplanung konkretisiert werden. Außerdem soll die von Städten ausgehende Umweltbelastung mit besonderem Fokus auf Luftqualität und Abfallbehandlung gesenkt und der allgemeine Zugang zu sicheren Grünflächen und öffentlichen Räumen gewährleistet werden.

Diese Ziele sollten als übergreifende Ziele in das Bewusstsein und in den Fokus rücken. Und darauf aufbauend müssen Fragen der nachhaltigen Mobilität diskutiert werden. Denn es greift zu kurz, wenn diese neue Mobilität nur isoliert betrachtet wird. Sie muss Mittel zum Zweck nachhaltigen Lebens in urbanen Räumen werden.

Foto: Ryoji Iwata auf Unsplash

Und die Menschen…?

Die Herausforderungen an urbane und nachhaltige Politik sind äußerst vielfältig. Einzelne, von Partikularinteressen vorangetriebene Lösungen werden nicht funktionieren, wenn (ganz im Sinne des Customers Adopting von Schumpeter) die Bürger die Lösungen nicht annehmen. Auch aus diesem Grund sind die sog. Von-Vorne-Anfangen Ideen nur bedingt hilfreich.

Es sieht spektakulär aus, wenn wir neue Stadtkonzepte wie Neom (in Saudi-Arabien) oder Toyota Woven City (in Japan) bestaunen, aber wir müssen einen anderen Weg gehen: Die holistische Weiterentwicklung der Städte, aufbauend auf den Bedürfnissen der Bürger. “Der Versuch, Lebensqualität zu erzwingen, indem man eine imaginäre perfekte Stadt von Grund auf neu schafft, verkennt die menschliche Natur. Sauber und perfekt bedeute auch steril.“ (Neckermann). Und Sterilität ist kein Grundbedürfnis des Menschen.

Ausgewählte Literatur

Canzler, W.; Knie, A. (2016) Die Digitale Mobilitätsrevolution. Vom Ende des Verkehrs, wie wir ihn kannten.  Oekom Verlag, München.
Flore, M. et al. (Hrsg.) (2021) Unterwegs zur neuen Mobilität. Perspektiven für Verkehr, Umwelt und Arbeit. Oekom Verlag, München.
Hauderowicz, D.; Ly Serena, K. (Hrsg.) (2020) Age-Inclusive Public Space. Hatje Cantz Verlag, München.
Hessel, F. (2019) Spazieren in Berlin. 6. Aufl. Berlin Verlag, Berlin.
Kahle, N.; Yunis, M. (2021) Mobilität in Bewegung. Wie soziale Innovationen unsere mobile Zukunft revolutionieren. Gabal Verlag, Offenbach.
Khanna, P. (2021) Move. Das Zeitalter der Migration. Rowohlt, Berlin.
Neckermann, L. (2018) Intelligente Städte, intelligente Mobilität. Die Transformation unserer Lebens- und Arbeitswelt. Troubador Publishing, London.
Osburg, Th. (2019) Changing Relevance of Trust in Digital Worlds, in: Osburg, Th.; Heinecke, S.  (Eds.) (2019): Media Trust in a Digital World. Springer, Heidelberg
Osburg, Th, (2018) Mobilität und urbane Entwicklung. Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung, in: adhibeo Wissenschaftsblog
Rammler, S. (2015) Schubumkehr. Die Zukunft der Mobilität. Fischer, Frankfurt/Main.
Schneidewind, U. (2019) Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandels. 4. Aufl. Fischer, Frankfurt/Main.
Schumpeter, J. (1910) Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Nachdruck der 1. Auflage. Duncker & Humboldt, Berlin.
Weber, J. (2020) Bewegende Zeiten. Mobilität der Zukunft. Springer, Wiesbaden.

 

 

 

Prof. Dr. Thomas Osburg
ist Professor für Nachhaltige Mobilität an der Hochschule Fresenius, München (thomas.osburg@hs-fresenius.de).

 

 

 

Dr. Rainer Nüßlein, MBA,
ist Hochschuldozent für Marketing und Vertrieb an der Hochschule Fresenius, München (rainer.nuesslein@hs-fresenius.de)

 

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